Dienstag, 30. Dezember 2003
Mord im Kinderzimmer oder Tod eines Weihnachtsgeschenks
Maria und Josef Schegenk waren wirklich verzweifelt. Kaum wurde der Kinofilm "Findet Nemo" in den Fernsehsendern der Nation beworben, gab es Geschrei. Die kleine Jessica wünschte sich nichts sehnlicher. Mit ihren acht Jahren wusste sie nur zu gut, wie sie ihre Eltern pädagogisch nicht sehr wertvoll erziehen konnte. Sie hatte den berühmten Dreh raus, wie sie sich Respekt verschaffte und ihren kleinen blondgelockten Dickkopf durchsetzte. Doch diesmal hatte sie wirklich Mühe und auch nachdem ihre Großmutter mit ihr in dem Film war, hatte sie nicht wirklich die zündende Idee, wie sie ihre Familie davon überzeugen könnte, dass sie, Jessica Schegenk, sich diesen Fisch mehr wünschte als irgendetwas anderes auf der Welt. Ständig argumentierten die Erwachsenen mit "Nein, das ist doch kein Spielzeug" oder Sätzen wie: "Ein Fisch gehört ins Meer Engelchen". Pah, ins Meer und was ist mit den Trionarden anderen Fischen in dem Aquarium bei Knauber? Nein, nein - die Erwachsenen wollten einfach kein Haustier und das fand das kleine Mädchen voll doof.
Oma Schegenk versuchte es mit der Aufklärungsmethode. Sie entführte ihre Enkelin eines Tages in den heimischen Aquapark, wo es Fische aller Art und Farbe in riesigen Becken und keinen Gläsern zu bestaunen gab.
"Schau Jessilein. Das ist der Nemofisch. Er ist ein Clownfisch, ein Anemonenfisch, ein Salzwasserfisch. Den kann man nicht so einfach zu Hause halten."
HAAA, damit hatte sich die Oma verraten. Von wegen gehört ins Meer - in dem Aquapark waren die Nemofische auch in diesen Aquariumskästen und... sie lebten. Der wahre Grund war also wirklich, die Erwachsenen wollten kein Haustier, noch nichtmal einen solch putzigen, kleinen, bunten Nemofisch. Die Achjährige fuhr härtere Geschütze auf. Nicht weniger entsetzt schauten ihre Eltern, als sie von ihrer Tochter einen Drohbrief für das Christkind erhielten:

lieHbeS christKINd iCH wiLl EinEn neMOfiscH wenn ICH KEInen krIEhGe HAlte ich s0 lAng dIE luVt aN dAs ICH nicHT meEr atMen tu!

Was tun? Die Eltern waren sich im Klaren darüber, dass die Tochter mit ihren acht Jahren noch nicht verantwortungsbewusst genug für solch ein edles Geschenk war. Sie wussten, dass ein Clownfisch nicht einfach zu halten ist und viel Pflege bedarf. So stürzten sie sich in den Weihnachtsverkauf und versuchten wenigstens das Nemofeeling ihrer Tochter zu unterstützen. Sie kauften Nemostifte, ein Nemoplüschtier, ein NemoCappy, einen NemoPullover und sogar NemoBettäsche. Nachdem sie so gut wie jeden Merchandiseartikel aufgekauft hatten, hofften sie, dass das Strahlen der Augen ihrer kleinen Prinzessin wenigstens im Ansatz mit dem Strahlen der Weihnachtsbeleuchtung mithalten würde.

Die kleine Jessica war schon sehr zappelig beim Abendbrot. Endlich war HeiligAbend und endlich würde sie den geliebten NemoFisch bekommen. Seit Tagen schon flüsterten Mami und Papi und es widersprach auch keiner der Großen mehr, wenn sie das Gespräch aufs Trapez brachte. Also konnte das doch nur heißen, dass Jessica einen wunderschönen Nemofisch vom Christkind bekommen würde. Nach der Drohung hatte es ja auch keine andere Wahl mehr. Jessica hibbelte auf dem Stuhl hin und her bis endlich das langersehnte Glockenläuten aus dem Wohnzimmer zu vernehmen war. Das bedeutete, das Christkind war da, und Jessica sauste wie ein kleiner Blitz in den benachbarten Wohnraum.
Das Wohnzimmer der Familie Schegenk war liebevoll geschmückt. Mitten im Raum stand die riesige Edeltanne behängt mit roten und blauen Weihnachtskugeln, passend zur Einrichtung, und natürlich mit echten Bienenwachskerzen geschmückt. Es war ein herrliches Bild und unter dem Baum, die Fläche war liebevoll mit Geschenkpapier ausgekleidet und mit Tannenzapfen und der kleinen Krippe dekoriert, befanden sich unzählige kleine und größere Geschenke. Jessica nahm vor dem Baum platz. Sie hockte sich vor die Geschenke und begann sie auszupacken. Irgendwie wirkte sie weniger aufgeregt mit jedem Geschenk. Papier aufreißen - auspacken - anschauen - noch ein, zweimal drehen und betrachten - bei Seite legen - nächstes Päckchen - aufreißen - auspacken... Am Ende der Geschenkeflut angekommen, nahm sich Jessica den KuschelNemoFisch und legte sich seufzend auf die Couch. "Vielleicht war es zuviel?", flüsterte Jessicas Mutter ihrem Mann ins Ohr. Der Vater schwieg und die Großmutter kam aus der Küche, stellte ein paar der selbstgebackenen Vanillekipferl auf den Wohnzimmertisch und nahm danach ihre Enkelin bei der Hand. "Komm mal mit Engelchen. Ich glaube, das Christkind hat dir noch was in dein Kinderzimmer gestellt." Jessica trottete hinter ihrer Oma her. Im Kinderzimmer angekommen, konnte das kleine Mädchen ihre Aufregung nicht mehr im Zaum halten. Dort stand ein bauchiges Glas auf dem Tisch und in ihm schwamm ein kleiner gold-orange schimmernder Fisch.

"Omili, liebes, liebstes Omilein. Danke, danke, danke. Sag dem Christkind bitte ganz viel Danke. Ein Nemofisch. Ich habe einen Nemofisch!"
"Jessilein, das ist ein, nein, das ist kein, ich meine das ist ein Gold...", weiter kam die Großmutter nicht.
Die kleine Jessica küsste und herzte ihre Großmutter, dass es eine wahre Freude war. Gemeinsam gingen sie zurück ins Wohnzimmer, wo auch die Eltern gleich viel zufriedener schauten, als sie die glücklichstrahlenden Augen ihrer Tochter sahen.
Familie Schegenk setzte sich vors Fernsehen, diskutierte über das makabere und brutale Programm zur Weihnachtszeit und erzählte sich Geschichten aus früheren Zeiten. Niemand bemerkte, dass die kleine Jessica ihre Geschenke beisammenräumte und in ihrem Kinderzimmer verschwand. Etwa zwei Stunden später, man wollte sich gerade bettfertig machen und räumte noch die Gläser und das Geschirr in die Küche, vernahmen die Eltern und die Oma einen Schrei, der ihnen durch Mark und Bein ging. Es klang nach einem wahren Massaker und nach der ersten Schreckenssekunde stürzten sich die drei Erwachsenen ins Kinderzimmer. Dort stand sie, die kleine Jessica, wild gestikulierend, mit hochrotem Köpfchen und das Gesicht vom Weinen schon ganz nass. Sie schluchzte herzerweichend und alles was die Erwachsenen verstanden war:

"Nemo tot! Mein Nemofisch gesterbselt tot! NEMOOOOTOOOOHOOOOOT!"

Langsamen Schrittes ging der Vater auf den kleinen Schreibtisch zu. In dem Goldfischglas waberte der Goldfisch bäuchlings an der Wasseroberfläche. Er war angemalt mit drei Streifen. Neben dem Glas stand die Blechdose mit weißer Latexfarbe. Die Farbe am Tapezierpinsel war noch nicht ganz getrocknet. Die Schreibtischplatte war ganz nass und auch die leere Packung Salz war schon komplett aufgeweicht.

Das Attentat mit der Latexfarbe hätte der kleine Kiemenatmer vielleicht noch überlebt, sicher aber hätte jemand der kleinen Jessica sagen sollen,

dass ein Goldfisch kein Nemofisch, kein Clownfisch, kein Anemonenfisch, und schon gar kein Salzwasserfisch ist!

© b.w., dezember 2003

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Gut geschrieben ;-)
Danke - Nette gute Nacht Geschichte! Weiter So!

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bitte, bitte,
werde mir mühe geben, den kreativen schub auszunutzen. ;o)

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